Die fatalen Fehler der Produktions-Digitalisierung bei KMUs.
Deutschlands industrielle Mitte erstickt ihre Digitalisierung oft an Overkill-Ambitionen: riesige IoT-Projekte, vollständige Maschinenvernetzung von Tag 1, monolithische Plattformprojekte – und am Ende bleibt der Nutzen auf dem Shopfloor aus
Fakten belegen den Stillstand: 72 % der Unternehmen haben keine zentrale Transformationsstrategie, 53 % berichten konkrete Probleme bei der Digitalisierung.
Gleichzeitig investiert der Mittelstand Milliarden – aber nur 35 % haben Digitalisierungsprojekte tatsächlich abgeschlossen [1][2].

Der strategische Blindflug: „Wir digitalisieren mal alles“
Bitkoms aktuelle Befragung (n = 603 Unternehmen) skizziert ein ernüchterndes Bild: 72 % ohne zentrale Transformationsstrategie; 53 % haben Mühe, die Digitalisierung zu bewältigen; nur 32 % sehen sich als Vorreiter.
Haupthemmnisse:
Datenschutz (88 %), Fachkräftemangel (74 %) – und fehlende Zeit im Tagesgeschäft (60 %) [1].
Parallel dazu meldet KfW Research: Zwar stiegen die Digitalisierungsausgaben der KMU 2023 auf 31,9 Mrd. €, doch „fertig“ wurden Projekte nur bei 35 % der Betriebe [2]. Viele KMUs starten mit Technologie-Roadmaps statt Wertstrom-Roadmaps – und bauen so digitale Komplexität auf instabile Prozesse.
Der VDMA bringt es auf den Punkt: Digitalisierungsansätze müssen am Beitrag zur Wertschöpfung gemessen werden; Lean-Prinzipien und Mitarbeitende stehen hier im Fokus [3].
Der IoT-Reflex: Vollvernetzung ist (meist) die falsche Erstmaßnahme
Komplette Maschinenvernetzung klingt beeindruckend – ist in Brownfield-Werken jedoch ein Kosten- und Integrationsrisiko. Heterogene Steuerungen, proprietäre Altanlagen und fehlende Datenmodelle machen das Vorhaben riskant. Forschung und Praxis warnen vor „Pilot-Purgatory“ und schwer skalierbaren Insellösungen [4].
Besser: Schrittweise Konnektivität entlang eines kritischen Flaschenhalses
(z. B. Engpasslinie, Qualitäts-Hotspot) und standardisierte Schnittstellen (OPC UA), die nachweislich Barrieren beim Datenaustausch senken – besonders im KMU-Kontext [5].
Auch die Wissenschaft rät vom „Alles-auf-einmal“-Dogma ab: Fraunhofer IAO plädiert im Shopfloor-Management für den optimalen Digitalisierungsgrad statt Maximalismus – technologiegetriebenes „autonomes SFM“ verfehlt oft die Prinzipien des Shopfloor-Managements [6].
Die übersehene Variable: Menschen auf dem Shopfloor
Studien zeigen: menschengerechte Gestaltung, kontextsensitive Informationen und der Einbezug der Belegschaft sind entscheidend für Akzeptanz und Leistung. Unsauber gestaltete Systeme führen dagegen schnell zu einer Belastung der Mitarbeiter [7].
VDMA und Fraunhofer betonen: Lean-Kultur (Standardarbeit, Abweichungen sichtbar machen) plus digitale Unterstützung – nicht umgekehrt. Technik hat dem Standard zu dienen, nicht den Standard zu sprengen [3].
Geschwindigkeit schlägt Größe: 90-Tage-Use-Cases statt Mega-Projekte
Die Erfahrungen aus dem „Global Lighthouse Network“ zeigen: Wert entsteht dort, wo Use-Cases schnell gebaut und skaliert werden, nicht wo jahrelang Plattformen geplant werden. Hersteller, die Digitalisierung & KI mit Tempo und Maßstab einsetzen, durchbrechen den Pilotfriedhof messbar [8].
McKinsey empfiehlt einen wertgetriebenen, iterativen Ansatz, weil viele Transformationen an der Skalierung scheitern. Leuchtturm-Erstnutzen (time-to-first-value) < 12 Wochen, dann replizieren – statt „Big Bang“ [9].
Was produzierende KMUs in Zukunft anders machen sollten
A. Maschinen nur dort vernetzen, wo es etwas bringt
Nicht jede Maschine muss sofort online sein. Wichtiger ist, an den Engpässen zu starten – dort, wo Stillstände oder Qualitätsprobleme den größten Schaden anrichten. Standards wie OPC UA helfen, Daten später leichter zusammenzuführen [5].
B. Mitarbeiter entlasten statt belasten
Digitale Systeme sollen Arbeit erleichtern – nicht zusätzliche Klicks oder Dokumentationen schaffen. Ein gutes Assistenzsystem liefert die richtige Info im richtigen Moment, ohne dass Mitarbeitende suchen müssen [7].
C. Erst Ordnung schaffen, dann digitalisieren
Wenn Prozesse chaotisch sind, hilft auch die beste Software nicht. Zuerst klare Abläufe und Standards schaffen, dann digitale Werkzeuge einsetzen, um diese zu unterstützen [3].
D. Projekte klein halten und schnell testen
Jedes Digitalprojekt sollte mit einem klaren Ziel starten (z. B. 15 % weniger Stillstand). Nach 3 Monaten muss man prüfen: Funktioniert es oder nicht? Wenn nicht – stoppen, anpassen oder beenden [9].
Metriken, die wirklich zählen
- Zeit bis zum ersten Nutzen: Ein Projekt sollte spätestens nach 90 Tagen einen positiven Effekt zeigen.
- Nutzungsrate: Wie viele Mitarbeitende nutzen das System wirklich?
Ziel: mindestens 80 %. - Minuten pro Schicht sparen: Jede eingesparte Bewegung oder jeder wegfallende Klick summiert sich [7].
- Kompatibilität: Schnittstellen müssen auch mit zukünftigen Maschinen funktionieren. Standards wie OPC UA geben Sicherheit [5].
- Weiterbildung: Wie viele Mitarbeitende wurden geschult und fühlen sich sicher im Umgang mit der Technik [1]
Fazit
Die Industrietransformation scheitert nicht am Potenzial, sondern am Ansatz. Mittelständische Fertigungsunternehmen (KMUs) brauchen kleine, schnelle Use-Cases mit 90-Tage-Wirkung, eine Shopfloor-Einführung, die Zeit schenkt statt stiehlt, und Standards, die Skalierung ermöglichen.
Alles andere ist digitales Theater 😉
Quellen
[1] Bitkom (2025): Digitalisierung der Wirtschaft 2025 – Status, Hürden, Strategien. Link
[2] KfW Research (2024): SME Digitalisation Report 2024. Link
[3] VDMA Guideline: Industrie 4.0 meets Lean – Wertschöpfung im Fokus. Link
[4] McKinsey (2022): Capturing the true value of Industry 4.0. Link
[5] dena/KEDi (2025): OPC UA Dossier – Interoperabilität als Schlüssel in heterogenen Anlagen. Link
[6] Fraunhofer IAO (2022): Smartes Shopfloor-Management: Optimaler Digitalisierungsgrad. Link
[7] BAuA/Fraunhofer: Digitale Assistenzsysteme – menschengerecht gestalten. Link
[8] World Economic Forum / Global Lighthouse Network (2023): Lighthouses Unlocking Value. Link
[9] McKinsey (2023–2025): From AI to Impact; Lessons from the Lighthouses. Link